Immer mal wieder zieht es mich für eine oder mehrere Nächte raus in die Natur. Nicht immer habe ich dabei Gesellschaft. Ich gehe auch allein zum Schlafen in den Wald. Gerade als Frau werde ich immer wieder gefragt, ob ich denn keine Angst so allein da draußen im Dunkeln hätte. Nein, eigentlich nicht. Sonst könnte ich auch nicht tun, was ich tue. Dennoch suche ich mir meine Schlafplätze immer sehr bewusst aus: in menschenberuhigtem Gebiet und außer Sichtweite von Wegen und Pfaden. Es muss ja nicht jeder wissen, wo ich gerade bin. Unter dem Radar bleiben ist meine Devise.
So sehr ich diese einsamen Kurzabenteuer liebe, gibt es doch ab und zu Vorfälle, die auch mich nervös werden lassen.
Erst vor zwei Tagen las ich einen Blogbeitrag über die 17 erschreckendsten Dinge auf dem Pacific Crest Trail. Ein Punkt davon war „der Boogieman“. Natürlich handelte es sich dabei nicht um eine Person im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um die Urängste, die nachts in einem aufsteigen. Völlige Dunkelheit, heulender Wind, ein brechender Ast hier, ein Schnaufen da. Es gibt sicher nur wenige Menschen, die dabei komplett gelassen bleiben. Und wer hätte gedacht, dass noch dieselbe Nacht eine solche werden würde, in der mich der Boogieman gleich dreimal besucht?
Auf in den stürmischen Wald
Freitag, 16 Uhr.
Mit gepacktem Rucksack mache ich mich auf den Weg zu meinem schon bekannten und geliebten Wildzeltplatz an der Berlin-Brandenburgischen Grenze. Wie vorausgesagt fängt es an zu stürmen und eine Regenfront zieht auf. Genau deswegen bin ich heute hier. Ich will mein Hammock mit dem Tarp und meine Fertigkeiten damit austesten und zwar nicht nur bei Schönwetterlage. Gerade noch bevor der Regen einsetzt hängt meine Hängematte schlupffertig unter dem festgezurrten Tarp. Die Temperatur ist mal eben von 28 auf 13 Grad gefallen.
18:30 Uhr
Mir ist inzwischen recht frisch. Also koche ich mir noch eine würzige heiße Suppe und bereite mir eine heiße Schokolade. Danach will ich in die Hängematte schlüpfen und mein Buch lesen, aber mein Buch ist nicht im Rucksack. Ich hätte schwören können, dass ich es eingepackt habe. Also lade ich mir kurzerhand die Kindl-Version herunter und lese auf meinem Handy. Mein Buch werde ich erst am nächsten Morgen durchnässt hinter dem Baum, an dem meine Hängematte hängt, finden.
19:45 Uhr
Die Sonne ist inzwischen untergegangen, der Regen hat aufgehört und es ist bereits ziemlich dunkel im Wald. In einiger Entfernung höre ich ein paar Wildschweine grunzen. Ein bekanntes Geräusch, denn im Sommer bin ich ihnen fast täglich bei meinen Trainingsläufen zum Sonnenaufgang begegnet.
21:30 Uhr
Hiker’s Midnight. Auch wenn ich nicht viel gewandert bin, macht die Waldluft müde. Außerdem bin ich mit meinem leuchtenden Handy auch von Ferne gut auszumachen, daher entscheide ich mich für einen frühen Schlaf.
1:34 Uhr
Ich wache auf und höre kurz darauf, was mich geweckt hat. Ein Geräusch, was ich in meinem Leben noch nie gehört habe. Ein tiefes, langanhaltendes Knurren. Danach Schnaufen. Und zwar aus nächster Nähe. Mein Herz fängt an zu schlagen. Was ist das? Das Knurren und Schnaufen bewegt sich. Mal ist es näher, mal weiter weg, aber nie wirklich weit. Wäre ich im amerikanischen Backcountry wäre mein erster Gedanke: das ist das Grollen eines großen Bären. Aber ich hänge hier, in den brandenburgischen Wäldern. Wölfe wurden immer öfter wieder in der Gegend gesichtet. Jedoch klingt dieses Knurren zu groß für einen Wolf. Was bleibt also übrig? So wenig, wie ich dieses haarsträubende Geräusch damit in Verbindung bringen würde, bleibt eigentlich nur ein Tier. Ein Keiler. Oder doch der Wolf? Was immer es ist, es versetzt mich in Angst. So sehr, dass ich zu meinem Neck Knife greife und es aus der Scheide ziehe. Genau so liege ich da. Minutenlang. Das Knurren kommt immer näher. Ich denke an die Tüte mit dem leeren Suppenbecher, die direkt unter meiner Hängematte liegt. Warum habe ich sie nicht in den Baum gehängt?
Schnaufen direkt neben mir. Ok, was mache ich jetzt? Still liegenbleiben hilft offensichtlich nicht. Und an Schlafen ist nicht zu denken. Ich strecke meine Arme unter dem Quilt hervor, suche nach meiner Brille, der Stirnlampe, dem Handy und dem inReach, schaue nochmal, wo genau der Notfallknopf ist. Nur für alle Fälle. Ich raschele und rutsche in meiner Hängematte umher. Das ist meinem Gast wohl zuviel. Er trollt sich. Mehrere Minuten bleibe ich noch regungslos liegen, um sicherzugehen, dass er wirklich weg ist. Dann drehe ich mich wieder auf die Seite und freue mich auf Schlaf.
3:18 Uhr
Knurren. Schnaufen. Ich werde aus dem Tiefschlaf gerissen. Es ist wieder da. Nur zwei Stunden nach dem letzten Besuch. Habe ich ihm nicht genug Angst gemacht? Ist es jetzt mutiger? Liege ich vielleicht einfach nur über etwas besonders Leckerem? Wieder umkreist es mich. Ich schnappe mir wieder mein Messer und überlege kurz, mit der Stirnlampe nachzusehen, was es wirklich ist. Vielleicht rege ich es damit aber noch mehr auf. Also lasse ich den Gedanken sein. Der fast volle Mond scheint direkt auf meine Hängematte, aber durch die Bäume und Sträucher ist es trotzdem so dunkel, dass ich absolut nicht erkennen kann, wo sich das Tier befindet. Diesmal fange ich schon nach etwas mehr als drei Minuten an zu rascheln. Was vorhin funktioniert hat, klappt hoffentlich diesmal auch wieder. Und ja, das Knurren und Schnaufen entfernt sich langsam. Ich hoffe, ich habe jetzt Ruhe bis die Sonne aufgeht.
5:47 Uhr
Es ist immer noch stockdunkel. Und ich bin nicht freiwillig wach. Mein persönlicher Boogieman ist schon wieder da. Tiefes, anhaltendes Grollen nur ein paar Meter von mir entfernt. Wieder zücke ich mein Messer. Diesmal versuche ich, das Geräusch mit dem Handy aufzunehmen. Kurz überlege ich auch, danach zu Googlen, um endlich final herauszufinden, ob ich mit meiner Vermutung – Keiler – richtig liege. Jedoch habe ich keine Lust, durch dasselbe Geräusch aus dem Handy das Tier vielleicht noch mehr anzulocken und verschiebe das auf später. Stattdessen kann ich meine Neugier kaum noch im Zaum halten und überlege wieder den Einsatz der Stirnlampe. Ich lasse es. Für mich ist die Situation unberechenbar, ich sehe meinen „Gegner“ ja nicht einmal. Er weiß aber genau, wo ich bin. Ich raschle. Diesmal dauert es länger bis er seinen Rückzug antritt. Wirklich einschlafen kann ich jetzt auch nicht mehr.
6:57 Uhr
Es ist endlich hell geworden im Wald. Erstaunlich, wieviel sicherer ich mich auf einmal fühle, wo ich wieder alles um mich herum sehen kann. Irgendwie hoffe ich, meinen knurrenden Boogieman nun noch einmal zu sehen, um meine Vermutung bestätigt zu wissen. Noch in der Hängematte liegend höre ich mir allerlei Wildschweingeräusche an, aber keins kommt wirklich dem nahe, was mir heute Nacht hat die Nackenhaare hat aufrecht stehen lassen. Ich schaue mir ein Video an, was man im Falle eines Wildschweinangriffs tun soll. Die nüchterne Erkenntnis: wenn man sich nicht schnell genug auf einen Baum flüchten kann, ist man als Mensch quasi chancenlos. Da hilft auch ein kleines Messerchen nicht. Beim Rundumblick stelle ich fest, dass keiner der naheliegenden Bäume bekletterbar ist. Alles hohe Nadelbäume ohne Äste in Reichweite am Stamm. Soviel zum Notfallplan.
Das wütende Wildschwein
Erst am Abend finde ich ein Video, was exakt das bedrohliche Geräusch wiedergibt. Bislang war ich davon ausgegangen, dass ich einfach im Fressgebiet des Wildschweins genächtigt hatte und es mich immer erst dann bemerkt hatte, wenn ich lautstark raschelte.
Die Angaben, die ich während meiner Recherche fand, sagen jedoch etwas anderes. Es seien „Kontaktlaute“ von Wildschweinen. Laute, die ein Tier von sich gibt, wenn es sagen will: „Ich weiß, dass du da bist und ich finde das überhaupt nicht gut.“ So betrachtet beunruhigt mich diese Erkenntnis noch im Nachhinein. Vor allem mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass das Tier in dieser Nacht immer wieder kam, um mir nachdrücklich mitzuteilen, dass es meinen Aufenthalt immer noch nicht gutheißt.
Und was lernen wir daraus?
In früheren Zeiten lebten Mensch und Tier ganz selbstverständlich nebeneinander. Ich finde es wunderbar, bei meinen Wanderungen immer mal wieder Füchse, Rehe und auch Rotten von Wildschweinen zu treffen. Dennoch gibt es Situationen, in denen beide Seiten – Mensch und Tier – mit der ungewohnten Lage erst einmal wieder umgehen müssen. Welcher Mensch schläft denn heutzutage noch im Wald? Klar, dass da ein Schwein mal ungemütlich wird, wenn man einfach so in seinem Wohnzimmer pennt.
Auch wenn ich bereits schon einige Male an exakt derselben Stelle ohne nächtlichen Besuch gehangen habe, werde ich es mir überlegen, dort noch einmal zu bleiben. Denn ohne Zweifel hatten wir beide keine besonders entspannte Nacht, das Wildschwein und ich.