[:de]Seit heute weiß ich, warum Bergwerke eben Bergwerke heißen. Nicht etwa, weil da im Berg gewerkt wird. Nein, wegen dem Berg im Berg. Dass ich mal so viele Höhenmeter untertage machen würde, hätte ich nicht gedacht. 255 Höhenmeter auf 10,8 km muss man auch erstmal „oben“ machen. Entsprechend bin ich jetzt, ca. 4 Stunden nach dem Lauf, mal richtig müde.
Die Nacht war heute kurz. So richtig kurz. Um 4:30 Uhr klingelt der Wecker und ich schlappe in die Küche, um literweise Kaffee für die Anreise nach Sondershausen zu kochen. Kletterhelm und Stirnlampe in den Rucksack geworfen und um 5:00 Uhr geht es los. Draußen ist es noch stockdunkel, aber trotz der grausam frühen Morgenstunde ist die Autobahn Richtung Berlin schon richtig voll. Es staut sich sogar. Zum Glück muss ich in die andere Richtung.
Nach rund drei Stunden Fahrt im Dunkeln gibt es noch genug Parkplätze vor dem Eingang des Erlebnisbergwerks im Winz-Örtchen Sondershausen. Die Startunterlagen sind unbürokratisch schnell abgeholt, so dass es nach einem kleinen Frühstück im Auto dann auch schon ab in den Schacht geht. Zwei Fahrstühle, die mit Mordsgeschwindigkeit in die Tiefe rauschen, bringen die 500-köpfige Läuferschar auf -700 Meter. Meine Ohren machen schon nach den ersten Sekunden dicht, so dass ich wie ein nach Luft schnappender Karpfen im Fahrstuhl stehe. Unten angekommen, steht man bereits im feinen, weißen Salzstaub. 24 Grad und eine trockene Luft herrschen hier, aber erstmal nicht unangenehm. Es geht nach rechts, links, geradeaus in die verschiedenen Gänge des einzigen noch aktiven Bergwerks in dieser Region. Überall sind Bänke und Klapptische aufgestellt, an denen sich Läufer umziehen. Eine Kleiderabgabe gibt es nicht. Es kommt ja (erstmal) sowieso niemand mehr raus. Eine kleine Bar serviert Wiener Würstchen, Nudeln und sonstige Snacks. Blöd, wenn man sein Geld über Tage vergessen hat.
Durch das neugierige Stöbern in den salzig-staubigen Gängen, wo noch allerlei alte Maschinerie ausgestellt ist, vergehen die zwei Stunden bis zum Start um 11:00 Uhr ziemlich schnell. Ein wenig Uneinigkeit besteht darüber, in welchen Tunnel denn gestartet wird. Es stehen immerhin vier Richtungen zur Verfügung. Der Moderator klärt uns auf. Erst links, dann 1,8 km in einer Runde und das ganze dann 6 mal, insgesamt also 10,8 km. Den fiesen Berg, der gleich nach dem Start kommt, hat er mal eben verschwiegen. Das finden wir noch früh genug heraus. Nachdem ich beim Médoc-Marathon viel zu weit hinten gestartet war und kein Croissant mehr abbekommen hatte, bin ich diesmal schlauer und stehe recht weit vorn. Mein Training in den letzten fünf Monaten bestand durch den Ermüdungsbruch aus nicht mehr als vier oder fünf Laufeinheiten insgesamt. Davon war nur eine Mal 10 km lang gewesen. Viel zu erwarten habe ich also heute nicht von mir.
Nach der ersten Kurve geht es ganz kurz ein wenig bergab. „What goes down, must come up“ denke ich. Aber es kommt viel schlimmer. Es folgt ein richtig gemeiner Anstieg. Und als der fast am Ende scheint und mir schon die ersten Läufer wieder herunter entgegen kommen, geht es nochmal höher. Ich laufe das Ding konsequent bis nach oben, aber beschließe auch gleichzeitig: das war das erste und einzige Mal. In den folgenden fünf Runden wird da nur zügig hochgewandert werden. Meine Lunge brennt schon wie Feuer. Die Luft ist salzhaltig und der Boden glatt. Glattgeschliffener Salzstein eben.
Den Rest der Runde geht es zum Glück tendenziell immer bergab. Denke ich. Muss daran liegen, dass ich in der ersten Runde noch Reserven habe, denn die folgenden Runden zeigen mir ganz deutlich auf, dass es auch hier noch Passagen gibt, die ich am Ende nur noch gehen werde.
In einem breiteren und gleichzeitig auch helleren Abschnitt stehen alte verrostete Bergwerks-LKWs und Fördermaschinen zum Angucken bereit. Hier ändert sich auch die Beschaffenheit des Bodens, denn man rennt auf einmal durch strandartigen Salzsand. Etwas weiter wird man mit Musik aus Lautsprechern bedudelt, bevor es links auf die Meile mit Extra-Salzstaub geht. Ich versuche, nur durch die Nase zu atmen, aber das klappt nur bedingt. Noch einmal rechts, dann geht es wieder hoch zur Zielgeraden. Oder eben auch erst zur zweiten von sechs Runden.
Nach drei Runden frage ich mich, wie lange mein Kreislauf diesen Kreislauf mit Berganstieg wohl noch mitmacht.
Nach vier Runden möchte ich mir den Helm vom Kopf reißen.
Nach viereinhalb Runden will all die Kohlensäure beim Bergablaufen wieder nach oben raus, die mir mit Cola und Selter beim Verpflegungspunkt gereicht wurde.
Nach fünf Runden tut Jürgen von der Lippe aus einem Lautsprecher kund: „Die weibliche Brust ist schön. Und es kommt ein Getränk raus.“
In der sechsten Runde schleife ich mich nur noch den Berg hoch und zwinge mich zum Weiterlaufen. Bei den alten LKWs steht ein Läufer und macht Fotos von ihnen. Einer nach meinem Geschmack. Ich frage ihn, ob er ein Foto mit sich und dem Wagen haben möchte. Füge noch hinzu: „Auf Rekorde kommt es hier eh nicht an“. „Ach, ich bin schon fertig“, sagt er. Er dreht nur noch mal eine Extrarunde. Ob ich auch ein Foto von mir haben möchte, fragt er. Klar! Ob ich nun 3 Minuten früher oder später im Ziel ankomme, ist jetzt auch egal.
Mit salzbedeckter Haut und hängender Zunge laufe ich nach gut 1:10 Stunden über die Ziellinie und starte gleich vorbei an der Zielverpflegung zum Kristallstand durch. Denn jeder Finisher erhält beim Kristalllauf einen eigenen, ganz individuellen Salzkristall. Die paar weißen Kristalle, die es vor dem Lauf noch gab, sind natürlich schon weg. Ich finde für mich dennoch einen schönen rotglänzenden Stein mit kecker Spitze und nehme ihn stolz an mich.
Nach dem Lauf dürfen alle Läufer in den kleinen Konzertsaal, der in den Berg gehauen ist. Eine vierköpfige Band heizt uns nochmal ordentlich ein. Es wird geschunkelt, gesungen und untergehakt. Die Stimmung und Akustik sind fantastisch. Kurz vor 14 Uhr beschließe ich, die Siegerehrung auszulassen, denn es wartet noch eine lange, mutmaßlich staugeschwängerte Rückfahrt nach Berlin.
Der Sondershäuser Kristalllauf ist etwas besonderes, abwechslungsreiches und liebevolles im Einerlei der hunderten Volksläufe. Und gleichzeitig bekommt man noch eine Bergwerksbesichtigung im Schnelldurchlauf. Nur Berge, die sollte man mögen.