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[:de]Berliner Polarnacht – Fehler wie ein Anfänger![:]

[:de]Fehler machen wie ein Anfänger. Und das nach hunderten von Wanderkilometern, davon zahlreiche in der kühlen bis kalten Winterzeit. Ja, auch das passiert (mir) mal. Zum bereits dritten Mal bin ich zur Berliner Polarnacht angemeldet. Beim ersten Mal vor zwei Jahren kam ich etwa 30 km weit. 2017 gab es dann die erste Urkunde zum erfolgreichen Überleben der damals wirklich harten 50 Km der Nacht. Vereiste und verharschte Böden mit ausreichend Schnee, um die Gelenke zu quälen, hatten mich mehrfach an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Dies Jahr war ich von Anfang an nicht sicher gewesen, ob ich die 50 Km durchziehe. Ich war seit Mitte November, seit dem Halbmarathon in Las Vegas, einfach zu faul gewesen. Bis auf einige wenige Alibi-Läufe und die Glühweinwanderung waren da keine sportlichen Highlights zu verzeichnen gewesen. Nun könnte ich als Vorwand den immensen Zeitaufwand für die Fjällräven Polar-Bewerbungsphase als Grund vorschieben, aber wenn seien wir mal ehrlich: eine Stunde für eine kleine Laufrunde ist doch immer irgendwo drin. Egal. Ich war also völlig untrainiert und wollte die Polarnacht für einen neuen Motivationsschub nutzen. Dafür eignen sich Anmeldungen zu Wettkämpfen immer!

Um 18 Uhr treffen wir uns zum präventiven Kohlenhydratspeicherauffüllen in einer Lokalität am S-Bhf Gesundbrunnen. Frisch gestärkt geht es um kurz vor 20 Uhr zum Treffpunkt los, wo Wolfgang Pagel und seine Helfer schon fleißig Listen abstreichen, Geld einsammeln und Routenbeschreibungen verteilen. Selfies werden geschossen, für Gruppenfotos zusammengerottet und Punkt 20 Uhr bewegen wir uns zu etwa fünfzigst in die Berliner Nacht. Mit etwa 1 Grad ist es winterlich kalt, aber der Boden eis- und schneefrei.

Ich habe mir zwar eine Papierkarte von Wolfgang eingesteckt, aber eigentlich nur für den Notfall. Selbst auf das Herunterladen der Strecke habe ich diesmal verzichtet. Ich möchte mich einfach mal treiben lassen, wenn ich schon nicht diejenige bin, die die muntere Truppe durch den nächtlichen Stadtdschungel führt. Das klappt auch richtig gut. Quasi von Beginn der Wanderung bis kurz vor Ankunft am 23 km entfernten Pausenziel habe ich keine Ahnung, wo ich gerade bin. Diese Gegend Berlins ist mir völlig fremd. Aber ich unterhalte mich vortrefflich mal mit dem einen, mal mit dem anderen. In der Dunkelheit erkenne ich im Zweifel auch erstmal gar nicht, mit wem ich da gerade rede.

 

Dumm gelaufen

Die amüsanten Gespräche sind sicherlich auch der Grund, warum sich zwei ungute Gefühle noch ganz gut unterdrücken lassen, die sich nach etwa 15 km immer weiter geistig und körperlich in den Vordergrund drängen: meine Oberschenkel und der Hintern frieren und ich muss auf Toilette. Bezüglich Zweiterem quält mich mein Magen zusehends mehr, aber eine Aussicht auf Erleichterung gibt es nicht. Zu schnell und ohne Anhalten bewegt sich die Masse. Max, der nur mal kurz in den Busch verschwunden war, brauchte 20 Minuten, um uns wieder einzuholen. Und wenn Max schon bei geringstmöglicher Auszieh-Zeit und hoher Aufholgeschwindigkeit schon so lange braucht, habe ich als Weibchen keine Chance, meine Mitwanderer jemals wieder zu finden

„Die kalten Schenkel hätte ich aber echt vermeiden können“, denke ich. „Ziehst dir fünf Schichten am Oberkörper an, wovon schon mindestens zwei zuviel sind… aber an den Beinen haste nur eine dünne Schicht. Wie doof ist das denn?“ Ich erinnere mich nun, im letzten Jahr mit langer Unterhose gestartet zu sein.

 

Um 0:25 Uhr landen wir am S-Bhf Zitadelle in Spandau und in der dortigen McDonalds-Filiale. Beim erleichternden Toilettenbesuch reicht ein flüchtiger Blick auf meine Oberschenkel, um zu wissen: Weitergehen in die immer noch kälter werdende Nacht macht einfach keinen Sinn. Zumindest nicht bis zum Ende der 50 km. Knallrot ist meine Haut dort überall und eiskalt. Eigentlich würde ich gerne trotzdem noch einige Kilometer mitwandern und so wie vor zwei Jahren nach gut 30 km aussteigen. Leider lässt das aber die geänderte Streckenführung nicht zu. Ab hier weiterzulaufen heißt, bis zum Ende zu laufen, denn es gibt keine öffentlichen Bahnhöfe mehr an der Route. Und auf die Spandauer Busse möchte ich mich nicht verlassen. Ich bin nicht die einzige, die so denkt und so steigen rund zehn Wanderer an diesem Punkt aus.

Als ich nachts um drei in Lichterfelde ankomme und die unglaubliche Ruhe genieße, bin ich zwar einerseits froh, jetzt ins Bett zu fallen. Andererseits ärgere ich mich dennoch richtig über meine Dummheit, ohne eine zweite Schicht um die Beine losgegangen zu sein. Manchmal muss man Fehler eben zweimal machen, damit sie sich für immer einprägen.

 

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[:de]24. Berliner Polarnacht – die Nacht der 1.000 Stürze[:]

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Merino-Langarmshirt? Check! Dünnes Fleecejäckchen? Check! Softshell-Jacke? Check! Winddichte und wasserabweisende Hose, wasserdichte Trailschuhe? Check! Hauchdünne Regen- und Daunenjacke sowie eine lange Merino-Unterhose im Gepäck mache ich mir noch schnell einen heißen Kaffee mit zuviel Ahornsirup und eine Thermoskanne Früchtetee. Es werden schließlich Minusgrade. Die alten, abgelatschten und an einigen Stellen schon gerissenen Überzieh-Spikes wandern noch in die Seitentasche des Rucksacks und ich verlasse wie immer panikartig, weil zu spät dran, die Wohnung.

Die Berliner Polarnacht war im letzten Jahr meine erste längere Wanderung im Schweinsgalopp gewesen. Nach 30 km war ich fertig. Im wahrsten Sinne des Wortes. Diesjahr will ich aber zumindest die eine Etappe schaffen: 50 km durch die Nacht, von der Friedrichstraße über Umwege bis nach Falkensee. Da meine selbst organisierten Wanderungen teilweise noch deutlich länger waren, bin ich guter Hoffnung, dass das klappt. Bevor es in die Kälte der Nacht geht, finde ich mich mit einigen meiner lieben Mitwanderer noch auf einen Happen im Restaurant Nolle ein. Neben bekannten Gesichtern sitzen mir drei Hamburger gegenüber, die viel Erfahrung und ebensoviel zu erzählen haben von Veranstaltungen wie der Horizontalen in Jena, dem Dodentocht sowie dem Mammutmarsch (ihrer Meinung nach der schlechteste Marsch) und Megamarsch (auch hier ist nichts gutes herauszuhören).

Der Zug setzt sich in Bewegung

Pünktlich um 19:40 Uhr versammeln wir uns vor dem DB Reisezentrum. Die noch tätigen Damen darin schauen argwöhnisch angesichts des Massenandrangs. Dabei wollen wir gar nichts von ihnen. Wolfgang Pagel, Organisator und Wanderleiter, läuft schon ganz aufgeregt durch die Menge. Ein wenig überrollt gefühlt hat er sich von der Flut der Marschgruppe EarnYourBacon. Und nervös sei er, vermutet ein von kommerziellen Veranstaltungen verwöhntes Klientel mit entsprechenden Ansprüchen. Er sollte noch feststellen dürfen, dass wir EarnYourBacons gar nicht so sind. Ob der großen Teilnehmerzahl – etwa 60 alleine für die 50 km Nachtstrecke – teilen wir uns in zwei Gruppen auf. Wolfgang wird unsere Gruppe 2 führen, während die schnelle Truppe schon zehn Minuten früher startet.

Punkt 20 Uhr starten wir mitten in Berlin. Dass wir noch mitten in der Stadt sind, merkt man vor allem an den nicht wenigen Menschen, die hier noch unterwegs sind. Während sie auf dem Weg zur nächsten Party sind und die Nacht zum Tag machen wollen, ziehen wir mit unseren Rucksäcken Richtung 50 km-Wanderung los. Unterschiedlicher kann eine Freitagnachtbeschäftigung wohl nicht sein. Einige Abschnitte der Strecke kommen mir bekannt vor. Wir überqueren den Invalidenfriedhof. Und das auch nur mit Glück, denn eine zotige Sicherheitsfrau hat bereits den Ausgang abgeschlossen und drückt ihr Unverständnis über unseren Aufzug aus. „Seid ihr blöd? Wat looft ihr ooch hier rum um die Zeit?“ Sie lässt uns dann doch passieren.

Nach 12 km merke ich langsam, dass ich „untenrum“ nur eine Hose anhab. Die flauschig warme Merino-Unterhose schleppe ich in meinem Rucksack rum. Schön blöd. Währenddessen haben sich die letzten Wolken am Himmel verzogen und geben den Blick auf die Sterne frei. Ein fast voller Mond leuchtet uns den Weg und zeigen die bösartigen Eisflächen auf, die uns immer mehr das Leben schwer machen. Um 0 Uhr taucht dann endlich das heißersehnte goldene M am Horizont auf. Flutsch! Und schon liege ich zum ersten Mal auf dem vereisten Asphalt. Zum Glück hat es den Hintern erwischt. Der ist eh gefroren.

Gerollte Pommes und Eishintern

Aufwärmen, Curly Fries in sich hineinstopfen (wie schon im letzten Jahr), lange Unterhose anziehen und eine weitere Schicht in Form meiner dünnen Daunenjacke hinzufügen. Dann geht es nach etwa 40 Minuten Pause weiter. Einige nutzen hier die letzte Chance auf Personennahverkehr und beenden ihre Polarnacht. Für alle anderen geht es weiter ins tiefste Spandau. Immer entlang des Havelufers.

An diesem schicken Kumpel ziehen alle unbeeindruckt vorbei. Wer ihn kennt, kennt einen meiner Lieblingsfilme!

An diesem schicken Kumpel ziehen alle unbeeindruckt vorbei. Wer ihn kennt, kennt einen meiner Lieblingsfilme!

Flutsch! Ich liege zum zweiten Mal. Wieder der Hintern. Ab dem Punkt sehe ich immer mal wieder den einen oder anderen durch die Gegend flutschen. Es geht aber immer ohne schlimmere Blessuren aus. Nach weiteren 10 km gibt es eine dreiminütige Trinkpause. Ja genau. 3 Minuten. Und keine mehr. Leider gibt es an der Stelle weder Klo noch Deckung. Hochziehen, heißt es jetzt. Meine Spikes, die ich bislang unangelegt rumschleppe, schmeiße ich hier endgültig weg. 3 Uhr ist es, als wir etwa 31 km hinter uns haben. Der Eiskeller, an dem das Highlight, die Temperaturmessung, vorgenommen werden soll, ist noch 12 km entfernt. 12 km, die auf keine weitere Pause hoffen lassen.

Inzwischen merke ich die Kilometer, die Kälte und meinen Drang, meine Blase zu erleichtern, deutlich. Aber die da vorne rasen einfach weiter. Wenn ich jetzt meinem Drang nachgehe, hole ich die Meute ja nie wieder ein. Wehmütig sehe ich das Straßenschild „Eiskellerweg“ an uns vorüberziehen. Der Name lässt vermuten, dass es hier direkt zum Eiskeller geht. Aber laut Route laufen wir nochmal eine riesige Schleife drumrum.

Aufholjagd – wenn die niederen Bedürfnisse siegen

In Schönwalde ist dann erstmal Schluss. Hochziehen geht nicht mehr. Rüber über die Straße hinter einen der wenigen Bäume. Ich sehe die Meute vorne von dannen ziehen. Egal. Ich laufe eh schon auf dem Zahnfleisch und habe arge Probleme, mit dem Tempo mitzuhalten. Seit dem endlosen Knochenbrecher-Gelenkhasser-Weg am am Niederneuendorfer Kanal, der entweder total vereist oder mit eisigen Pfützen überzogen war (meist aber beides), spüre ich jeden Muskel meines Körpers. Noch 4 km bis zum Eiskeller. VIER verdammte Kilometer. Ganz in der Ferne sehe ich irgendwann die Wandergruppe. Nach und nach hole ich auf. Auf dem Feld zieht sich die Gruppe auseinander, ist aber in der Dunkelheit dank der Stirnlampen wie Glühwürmchen gut zu sehen.

Km 40, 41, 42… dann sehe ich einen roten Schein und höre Geschwatze. Da sitzen sie auf einer überdachten Holzbank und strecken ihre geschundenen Beine aus. Es gibt heißen Tee vom Wanderverein. Und die sagenumwobene Temperaturmessung am Kältepol. -2 Grad hat es. Kein Rekord. Es hatte schon mal 13 Grad plus und deutlich mehr Minusgrade. Dann die ermutigende Aussage, dass wir uns im Zeitverzug befinden. Ich kann das gar nicht glauben. Und keine 10 Minuten später pfeift Wolfgang zum Aufbruch. Noch 7 Kilometer bis zum Bäcker in Falkensee.

Die Kilometer des Grauens

7 Kilometer erscheinen mir an dem Punkt wie eine unüberbrückbare Distanz. Immer wieder schaue ich auf meine GPS-Uhr. 43,12 km. 43,25. 43,5. 43,75. Jeder geschaffte Viertel-Kilometer ist ein Erfolg. Trotzdem fühle ich mich einfach nur noch elend. Bei KM 46 will ich eigentlich nur noch auf dem Boden sitzen und heulen. Das einzige, was mich davon abhält, ist der eisige Boden. Dann die erlösenden Worte: „Da hinten! Da an der Ampel ist der Bäcker!“ Von Sichtweite bis Ankunft sollte es aber immer noch ein ganzer Kilometer sein. 200 m vor dem Bäcker…flutsch! Diesmal haut es mich unsanft auf mein Knie. Mist. Das musste doch jetzt nicht sein. Tränen schießen mir in die Augen. Aus Schmerz und Verzweiflung. Keine Ahnung, was überwiegt.

Die letzten Meter zum Bäcker werden nur durch Hoffnung getragen. Hoffnung, dass es bald vorbei ist. Als ich die Tür zur Backstube öffne, fühlt sich das an, als sei ich gerade im Paradies angekommen. Alles leuchtet golden. Die Brötchen, die Lampen… Karsten und Co sind schon da. Lachen uns an. Mein erster Gang ist zur Toilette. Und ich schwöre mir: nie wieder Polarnacht! Stolz nehme ich meine Urkunde über 50 km in Empfang. „Carola Keßler überstand die 50 km…“ Das war noch nie so wahr!

Ich lasse mich auf einen Hocker sinken. Wolfgang erzählt glücklich, wie toll er unsere Truppe findet. So pflegeleicht. Keine seiner Befürchtungen hätte sich bestätigt. Wir erinnern ihn ein wenig an seine Wandergruppe früher… Das nenne ich mal ein Kompliment. Ja, wir sind schon großartig! In dem Moment frage ich mich wirklich, wie Wolfgang es schafft, in seinem Alter so etwas durchzuziehen. Ich kann nur meinen Hut… meine Mütze ziehen.

Ich beiße in mein Croissant, trinke den heißen Kaffee… und dann kommt die Erkenntnis: bis zum Bahnhof Falkensee sind es noch 1,2 km…

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[:de]23. Berliner Polarnacht – Der Mammutmarsch, den keiner kennt[:]

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Wie Berliner Polarnacht? Und schon die 23.? Habt ihr etwa noch nie von der berühmten Berliner Polarnacht gehört? Und ihr nennt euch Berliner! Nicht schlimm. Wäre ich nicht zufällig Mitglied in der Facebook-Gruppe zum Mammutmarsch 2016, in der jemand etwas zur Berliner Polarnacht postete, hätte ich davon auch diesjahr nichts gewusst.

“Geführte Wanderung und Temperaturmessung an einem Kältepol Berlins” – so bezeichnet Wolfgang Pagel dieses Event, das er organisiert und führt. Das klingt erst einmal nicht nach einem aufregenden Abenteuer. Wenn ich euch aber erzähle, dass er mit seinen Schäfchen, die sich zur Polarnacht trauen, bis zu 100 km in 23 Stunden bewältigt, werden die Augen groß! 100 km durch Berlin und Brandenburg. Wer sich nicht gleich die komplette Distanz zumuten will, für den hat er die Wanderung in zwei Teile gesplittet: 50 km Nachtwanderung und 50 km Tagwanderung, was immer noch ein Hammer ist.

Töricht, wie ich war, hatte ich mich für die 50 km Nachtwanderung angemeldet. Oldschool per Email an Herrn Pagel. Ein Anmeldeformular gibt es auf der übersichtlich gestalteten Website zur Berliner Polarnacht nicht. Um 20 Uhr sollte es vom Bahnhof Südkreuz aus losgehen. Nach einem kompletten Arbeitstag inklusive frühem Aufstehen und einem erfolglosen Mittagsschlafversuch schnürte ich mein Ränzchen für den nächtlichen Ausflug. Heißer Kaffee, heißer Tee und Klamotten im fast schon übertriebenen Zwiebelprinzip sollten mich warm halten. Meine recht neuen Wanderschuhe hatte ich am Vorabend liebevoll mit Bienenwachs eingecremt.

Berliner Polarnacht Gepäck

Berliner Polarnacht Carola Keßler Start

Bananen, Kuchen und ClifBars sollten neben noch frisch gemachten gebrannten Mandeln die Moral aufrecht erhalten. Hinreichend müde, aber frohen Mutes begab ich mich zum Treffpunkt. Ein übersichtliches Rudel hatte sich um viertel vor acht schon vor dem DB Reisezentrum eingefunden und Herr Pagel gab eifrig Kartenkopien und letzte Hinweise aus. Der Organisationsbeitrag in Höhe von 3 € wurde direkt dort gezahlt.

Berliner Polarnacht treffpunkt

KM: Null – Es geht los

Punkt 20 Uhr setzte sich unser für Stadtverhältnisse sehr ungewohnt gekleidetes Grüppchen in Bewegung. Vor dem Bahnhof drückte Herr Pagel (Wolfgang) seine Überraschung über die hohe Anzahl an Teilnehmern aus. Etwa gut 30 Männlein und Weiblein wollten durch die Nacht wandern. Das seien doppelt soviel wie in den Vorjahren. Die sozialen Medien eben…

Und dann ging es auch schon weiter. Im Schweinsgalopp. Wir hatten ja schließlich einen straffen Zeitplan. Schon an der ersten Ampel sahen wir uns den Herausforderungen der Stadt gegenüber: während gut 3/4 der Gruppe die Ampelphase geschafft hatten, stand ein kläglicher Rest bei rot greinend am Bordstein. Und sah sein Rudel um die nächste Häuserecke in der Nacht verschwinden. Solche Szenen sollten sich noch oft abspielen.

Nach einer Verfolgungsjagd, um mit dem Polarnachtrudel wieder aufzuschließen, ging es schnurstracks Richtung Potsdamer Platz. Zum ersten Mal durchwanderte ich den Park am Gleisdreieck. Der soll sehr schön sein, habe ich mir sagen lassen. Leider war davon durch Nacht und Nebel nicht viel zu sehen.

Berliner Polarnacht View Potsdamer Platz

Bei -1 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit war der Weg stellenweise gefährlich glatt. Langsamer oder vorsichtiger laufen war aber keine Option. Das Rudel kannte kein Erbarmen. Durch den flotten Schritt und meine gefühlten hundert Schichten Kleidung war mir richtig warm. Hände, Beine, Oberkörper… alles glühte. Und ich hatte sogar noch eine weitere Schicht im Rucksack. Aber immer noch besser als zu frieren.

KM 5: Die Essensbuden am Potsdamer Platz verlocken

An der großen Kreuzung am Potsdamer Platz endlich mal auch eine rote Ampel für die Vordersten. Unser Grüppchen rückte wieder näher zusammen. Genau eine Ampelschaltung hatte ich Zeit für ein kitschiges Touristenfoto. Man nimmt, was man kriegt. Ich hatte nicht mal genug Zeit, viele Gedanken daran zu verschwenden, den verlockenden kulinarischen Düften nachzugehen. Einen Coffee-to-go holen? Undenkbar bei dem Tempo. Wir hatten es schließlich eilig.

Berliner Polarnacht Potsdamer Platz

Kaum hatte ich mich von den Bildern leckeren Essens in meinem Kopf erholt, passierten wir auch schon das Brandenburger Tor, ohne einen weiteren Moment daran zu verschwenden. Ich machte flink ein Bild und hörte Gemurmel hinter mir “…muss ja alles gleich in Echtzeit bei Facebook reingestellt werden.” Nee! Nicht bei Facebook. Twitter, ihr Unwissenden! DA läuft mein Alle-paar-Kilometer-Live-Feed!

Berliner Polarnacht Brandenburger Tor

Auch als wir ins Regierungsviertel und an der Spree entlang wanderten oder vielmehr durchrasten, nahm ich mir die Zeit, ein paar Bilder am Wegesrand zu machen. Wann komme ich sonst schon mal um die Uhrzeit hier lang? Jedes Foto bedeutete aber immer wieder eine wilde Aufholjagd und manch ermahnendes Wort vom Wanderleiter. Ja, Herr Lehrer, ich hab schon wieder getrödelt.

Berliner Polarnacht Spree

Berliner Polarnacht Lampen

Nach 11,5 km gab ich meinem stärker werdenen Hungergefühl nach und packte die gebrannten Mandeln und meine Banane aus. Verhungert wäre ich an der Stelle sicher nicht, aber was ist schon eine Wanderung ohne Verpflegung? Nebenbei machte sich ein weiteres Bedürfnis bei mir breit, das sich nicht so einfach lösen ließ. Die Männer stellten sich dafür einfach an einen Baum. Bei mir hätte das geheißen, alle Zwiebelschichten abzupellen. Und folgerichtig wieder anzupellen. Also verkniff ich es mir bis zur Pause.

KM 15: Einkehr im Gasthaus zur goldenen Möwe

Pause. Endlich Pause. Nicht, weil ich nicht mehr marschieren konnte, sondern wegen der sanitären Anlagen, die ich beim Burgerbrater als allererste Maßnahme aufsuchte. Darüber, dass die Pause bei McDonalds stattfand, kann man sicher geteilter Meinung sein. Allerdings muss ja auch beachtet werden, dass um 23:oo Uhr nicht mehr jede Lokalität geöffnet ist. Von ausreichenden Sitzplätzen für über 30 Wandersleute mal ganz abgesehen. Natürlich war mein Rucksack gefüllt mit ausreichend nahrhafter Energie. Natürlich holte ich mir trotzdem eine Portion Curly Fries.

Berliner Polarnacht Pause

Da demnächst dunklere Wegesabschnitte anstanden, kramte ich aus meinem Rucksack die Stirnlampen raus. Wie ich da so saß und kramte, bemerkte Tim, einer meiner Weggefährten plötzlich: “Du läufst aus.” Hatte ich mal wieder nicht meinen Trinkschlauch gesichert und drückte nun beim Wühlen darauf. Unter meinen Stuhl hatte sich bereits eine Pfütze gebildet. Und auch meine Hose war voll Wasser. Auf weitere Nachfragen, was ich denn da angestellt hätte, meinte ich dann nur trocken “Ich hab meine Blase entleert”.

Vierzig Minuten später rief Wolfgang zum erneuten Aufbruch auf. Meinetwegen hätten auch 20 oder 30 Minuten Pause gereicht. Dann hätte man an der einen oder anderen Stelle auch Zeit gehabt, auf die ampelgepeinigten Nachzügler zu warten.

KM 20: The Walking Dead

Nachdem wir das gleißende Licht des Flughafens Tegel hinter uns gelassen hatten, trabten wir weiter durch den Forst Jungfernheide und trafen auf ein Gewässer. Grob die Karte vor Augen habend, vermutete ich dahinter den Tegeler See. Stimmte sogar. Ein schöner Ausblick zum beleuchteten Ufer inklusive. Nachdem ich mir meine Frage zur aktuellen Position selbst beantwortet hatte, trottete ich weiter hinterher. In dem Moment war mir alles andere sowieso schnurz und ich folgte wie ein Zombie dem Gehirn ganz vorne. Körperlich ging es mir gut. Geistig hatte ich erstmal abgeschaltet. Um 00:40 Uhr konnte man nach einem Arbeitstag und 20 km Marschieren auch nicht mehr erwarten.

Berliner Polarnacht Tegeler See

Berliner Polarnacht Tegel

Im Tegeler Forst setzte ich zum ersten Mal meine Stirnlampe auf. Aber nur kurz, um ein Foto unseres Waldschratdaseins festzuhalten und des Wanderweges, den wir nun verfolgten. Obwohl stockdunkel gab es Einzelmeinungen derart, dass es ja wohl hell genug im dichten Wald ohne Beleuchtung sei. Das Licht der Sterne konnte es nicht gewesen sein, dem derjenige folgte, denn der Himmel war wolkenverhangen. Da ich nicht unbedingt Bekanntschaft mit einem Baum machen wollte, die gemeinhin im Wald ab und zu stehen, war ich froh über die Beleuchtung der Stirnlampen meines Grüppchens. Der Kritiker hielt von da an Sicherheitsabstand von unserer blendenden Schönheit.

Berliner Polarnacht Wanderweg7

Berliner Polarnacht Tegeler Frs

KM 25: Meuterei bei der Berliner Polarnacht

Obwohl alle kleinen Grüppchen größtenteils unter sich blieben, schafften wir es doch mal, einen Dialog mit ein paar Mitmarschierern aufzubauen. Wir wollten herausfinden, wie sie denn auf die Berliner Polarnacht gekommen sind. “Na da gab es so einen Post in der Mammutmarsch-Gruppe bei Facebook”. Ja, der! Ohne den wäre die Hälfte jetzt wohl nicht hier. Und nächste Woche, beim ersten Trainingsmarsch zum Mammut seien sie  auch dabei. Mal schauen, ob ich dann noch jemanden wiedererkenne. Nachts sind alle Wanderer grau…

Berliner Polarnacht Brücke

In unserem Dreiergespann machte sich währenddessen Unmut breit. Schmerzende Fußsohlen, aufgeriebene Blasen und sonstige Ausfallerscheinungen. Es ächzte und stöhnte beidseitig neben mir. Als ich nach 27 km nach dem Passieren eines vereisten Feldes nochmal einen Zahn zulegte, kam das erste “Ich hasse Dich!” hinübergeknurrt. Gefolgt von “Der nächste S-Bhf ist meiner!” Der nächste Bahnhof war Heiligensee. Mir ging es vergleichsweise gut. Meine Schienbeine merkte ich zwar genauso wie mein Knie, auf das ich beim Lauftraining auf Eis gefallen war. Aber ich wäre auch noch ein paar Kilometer gegangen.

KM 30: In Heiligensee ist Schluss

Als wir nach knapp 30 km den S-Bhf Heiligensee erreichten, war ich der festen Überzeugung, hier würden einige die Ausstiegsmöglichkeit nutzen. Pustekuchen! Es wurde weder das Tempo gedrosselt, noch der Abzweig zum Bahnsteig eines Blickes gewürdigt. Auch keine Frage, ob jemand genug hat. Alle zogen weiter durch. Wir waren also offiziell die Luschen vom Dienst. Die letzten winkten noch kurz und verschwanden in der Dunkelheit. Die vordersten werden nicht einmal mitbekommen haben, dass wir uns abgeseilt hatten. “Niemand wird zurückgelassen” ist ein Spruch, der bei dieser Veranstaltung völlig fehl am Platze ist.

Berliner Polarnacht Heiligensee

Glücklicherweise fuhr die S-Bahn von Heiligensee alle halbe Stunde. Die ganze Nacht hindurch. Hauptstadt zu sein, ist doch was feines. Nicht einmal umsteigen brauchte ich. Meine Begleiter leckten sich ihre Wunden und trafen Feststellungen zum falsch gewählten Schuhwerk oder Socken. Mir machten hautpsächlich meine Schienbeine zu schaffen. Aber ich dachte, das hielte sich noch in Grenzen. Eine Stunde S-Bahnfahrt später wurde ich eines besseren belehrt. Ich stand auf, stieg aus und versuchte zu laufen. Meine Beine waren steifer als die von Pinoccio! Und so lief ich auch. Bestimmt einen halben Kilometer. Danach wurde es allmählich besser. Wer weiß, wie das geendet hätte, wenn ich die ganzen 50 km gelaufen wäre.

So gesehen war ich durchaus froh, mich als Lusche geoutet zu haben. Wer wandert auch schon aus dem Stand heraus 50 km, wenn einem der eigene Körper lieb ist? Genau deswegen fängt nächste Woche mein offizielles Training zum Mammutmarsch dort an, wo die Polarnacht aufgehört hat: mit 30 km!

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