[:de]23. Berliner Polarnacht – Der Mammutmarsch, den keiner kennt[:]

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Wie Berliner Polarnacht? Und schon die 23.? Habt ihr etwa noch nie von der berühmten Berliner Polarnacht gehört? Und ihr nennt euch Berliner! Nicht schlimm. Wäre ich nicht zufällig Mitglied in der Facebook-Gruppe zum Mammutmarsch 2016, in der jemand etwas zur Berliner Polarnacht postete, hätte ich davon auch diesjahr nichts gewusst.

“Geführte Wanderung und Temperaturmessung an einem Kältepol Berlins” – so bezeichnet Wolfgang Pagel dieses Event, das er organisiert und führt. Das klingt erst einmal nicht nach einem aufregenden Abenteuer. Wenn ich euch aber erzähle, dass er mit seinen Schäfchen, die sich zur Polarnacht trauen, bis zu 100 km in 23 Stunden bewältigt, werden die Augen groß! 100 km durch Berlin und Brandenburg. Wer sich nicht gleich die komplette Distanz zumuten will, für den hat er die Wanderung in zwei Teile gesplittet: 50 km Nachtwanderung und 50 km Tagwanderung, was immer noch ein Hammer ist.

Töricht, wie ich war, hatte ich mich für die 50 km Nachtwanderung angemeldet. Oldschool per Email an Herrn Pagel. Ein Anmeldeformular gibt es auf der übersichtlich gestalteten Website zur Berliner Polarnacht nicht. Um 20 Uhr sollte es vom Bahnhof Südkreuz aus losgehen. Nach einem kompletten Arbeitstag inklusive frühem Aufstehen und einem erfolglosen Mittagsschlafversuch schnürte ich mein Ränzchen für den nächtlichen Ausflug. Heißer Kaffee, heißer Tee und Klamotten im fast schon übertriebenen Zwiebelprinzip sollten mich warm halten. Meine recht neuen Wanderschuhe hatte ich am Vorabend liebevoll mit Bienenwachs eingecremt.

Berliner Polarnacht Gepäck

Berliner Polarnacht Carola Keßler Start

Bananen, Kuchen und ClifBars sollten neben noch frisch gemachten gebrannten Mandeln die Moral aufrecht erhalten. Hinreichend müde, aber frohen Mutes begab ich mich zum Treffpunkt. Ein übersichtliches Rudel hatte sich um viertel vor acht schon vor dem DB Reisezentrum eingefunden und Herr Pagel gab eifrig Kartenkopien und letzte Hinweise aus. Der Organisationsbeitrag in Höhe von 3 € wurde direkt dort gezahlt.

Berliner Polarnacht treffpunkt

KM: Null – Es geht los

Punkt 20 Uhr setzte sich unser für Stadtverhältnisse sehr ungewohnt gekleidetes Grüppchen in Bewegung. Vor dem Bahnhof drückte Herr Pagel (Wolfgang) seine Überraschung über die hohe Anzahl an Teilnehmern aus. Etwa gut 30 Männlein und Weiblein wollten durch die Nacht wandern. Das seien doppelt soviel wie in den Vorjahren. Die sozialen Medien eben…

Und dann ging es auch schon weiter. Im Schweinsgalopp. Wir hatten ja schließlich einen straffen Zeitplan. Schon an der ersten Ampel sahen wir uns den Herausforderungen der Stadt gegenüber: während gut 3/4 der Gruppe die Ampelphase geschafft hatten, stand ein kläglicher Rest bei rot greinend am Bordstein. Und sah sein Rudel um die nächste Häuserecke in der Nacht verschwinden. Solche Szenen sollten sich noch oft abspielen.

Nach einer Verfolgungsjagd, um mit dem Polarnachtrudel wieder aufzuschließen, ging es schnurstracks Richtung Potsdamer Platz. Zum ersten Mal durchwanderte ich den Park am Gleisdreieck. Der soll sehr schön sein, habe ich mir sagen lassen. Leider war davon durch Nacht und Nebel nicht viel zu sehen.

Berliner Polarnacht View Potsdamer Platz

Bei -1 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit war der Weg stellenweise gefährlich glatt. Langsamer oder vorsichtiger laufen war aber keine Option. Das Rudel kannte kein Erbarmen. Durch den flotten Schritt und meine gefühlten hundert Schichten Kleidung war mir richtig warm. Hände, Beine, Oberkörper… alles glühte. Und ich hatte sogar noch eine weitere Schicht im Rucksack. Aber immer noch besser als zu frieren.

KM 5: Die Essensbuden am Potsdamer Platz verlocken

An der großen Kreuzung am Potsdamer Platz endlich mal auch eine rote Ampel für die Vordersten. Unser Grüppchen rückte wieder näher zusammen. Genau eine Ampelschaltung hatte ich Zeit für ein kitschiges Touristenfoto. Man nimmt, was man kriegt. Ich hatte nicht mal genug Zeit, viele Gedanken daran zu verschwenden, den verlockenden kulinarischen Düften nachzugehen. Einen Coffee-to-go holen? Undenkbar bei dem Tempo. Wir hatten es schließlich eilig.

Berliner Polarnacht Potsdamer Platz

Kaum hatte ich mich von den Bildern leckeren Essens in meinem Kopf erholt, passierten wir auch schon das Brandenburger Tor, ohne einen weiteren Moment daran zu verschwenden. Ich machte flink ein Bild und hörte Gemurmel hinter mir “…muss ja alles gleich in Echtzeit bei Facebook reingestellt werden.” Nee! Nicht bei Facebook. Twitter, ihr Unwissenden! DA läuft mein Alle-paar-Kilometer-Live-Feed!

Berliner Polarnacht Brandenburger Tor

Auch als wir ins Regierungsviertel und an der Spree entlang wanderten oder vielmehr durchrasten, nahm ich mir die Zeit, ein paar Bilder am Wegesrand zu machen. Wann komme ich sonst schon mal um die Uhrzeit hier lang? Jedes Foto bedeutete aber immer wieder eine wilde Aufholjagd und manch ermahnendes Wort vom Wanderleiter. Ja, Herr Lehrer, ich hab schon wieder getrödelt.

Berliner Polarnacht Spree

Berliner Polarnacht Lampen

Nach 11,5 km gab ich meinem stärker werdenen Hungergefühl nach und packte die gebrannten Mandeln und meine Banane aus. Verhungert wäre ich an der Stelle sicher nicht, aber was ist schon eine Wanderung ohne Verpflegung? Nebenbei machte sich ein weiteres Bedürfnis bei mir breit, das sich nicht so einfach lösen ließ. Die Männer stellten sich dafür einfach an einen Baum. Bei mir hätte das geheißen, alle Zwiebelschichten abzupellen. Und folgerichtig wieder anzupellen. Also verkniff ich es mir bis zur Pause.

KM 15: Einkehr im Gasthaus zur goldenen Möwe

Pause. Endlich Pause. Nicht, weil ich nicht mehr marschieren konnte, sondern wegen der sanitären Anlagen, die ich beim Burgerbrater als allererste Maßnahme aufsuchte. Darüber, dass die Pause bei McDonalds stattfand, kann man sicher geteilter Meinung sein. Allerdings muss ja auch beachtet werden, dass um 23:oo Uhr nicht mehr jede Lokalität geöffnet ist. Von ausreichenden Sitzplätzen für über 30 Wandersleute mal ganz abgesehen. Natürlich war mein Rucksack gefüllt mit ausreichend nahrhafter Energie. Natürlich holte ich mir trotzdem eine Portion Curly Fries.

Berliner Polarnacht Pause

Da demnächst dunklere Wegesabschnitte anstanden, kramte ich aus meinem Rucksack die Stirnlampen raus. Wie ich da so saß und kramte, bemerkte Tim, einer meiner Weggefährten plötzlich: “Du läufst aus.” Hatte ich mal wieder nicht meinen Trinkschlauch gesichert und drückte nun beim Wühlen darauf. Unter meinen Stuhl hatte sich bereits eine Pfütze gebildet. Und auch meine Hose war voll Wasser. Auf weitere Nachfragen, was ich denn da angestellt hätte, meinte ich dann nur trocken “Ich hab meine Blase entleert”.

Vierzig Minuten später rief Wolfgang zum erneuten Aufbruch auf. Meinetwegen hätten auch 20 oder 30 Minuten Pause gereicht. Dann hätte man an der einen oder anderen Stelle auch Zeit gehabt, auf die ampelgepeinigten Nachzügler zu warten.

KM 20: The Walking Dead

Nachdem wir das gleißende Licht des Flughafens Tegel hinter uns gelassen hatten, trabten wir weiter durch den Forst Jungfernheide und trafen auf ein Gewässer. Grob die Karte vor Augen habend, vermutete ich dahinter den Tegeler See. Stimmte sogar. Ein schöner Ausblick zum beleuchteten Ufer inklusive. Nachdem ich mir meine Frage zur aktuellen Position selbst beantwortet hatte, trottete ich weiter hinterher. In dem Moment war mir alles andere sowieso schnurz und ich folgte wie ein Zombie dem Gehirn ganz vorne. Körperlich ging es mir gut. Geistig hatte ich erstmal abgeschaltet. Um 00:40 Uhr konnte man nach einem Arbeitstag und 20 km Marschieren auch nicht mehr erwarten.

Berliner Polarnacht Tegeler See

Berliner Polarnacht Tegel

Im Tegeler Forst setzte ich zum ersten Mal meine Stirnlampe auf. Aber nur kurz, um ein Foto unseres Waldschratdaseins festzuhalten und des Wanderweges, den wir nun verfolgten. Obwohl stockdunkel gab es Einzelmeinungen derart, dass es ja wohl hell genug im dichten Wald ohne Beleuchtung sei. Das Licht der Sterne konnte es nicht gewesen sein, dem derjenige folgte, denn der Himmel war wolkenverhangen. Da ich nicht unbedingt Bekanntschaft mit einem Baum machen wollte, die gemeinhin im Wald ab und zu stehen, war ich froh über die Beleuchtung der Stirnlampen meines Grüppchens. Der Kritiker hielt von da an Sicherheitsabstand von unserer blendenden Schönheit.

Berliner Polarnacht Wanderweg7

Berliner Polarnacht Tegeler Frs

KM 25: Meuterei bei der Berliner Polarnacht

Obwohl alle kleinen Grüppchen größtenteils unter sich blieben, schafften wir es doch mal, einen Dialog mit ein paar Mitmarschierern aufzubauen. Wir wollten herausfinden, wie sie denn auf die Berliner Polarnacht gekommen sind. “Na da gab es so einen Post in der Mammutmarsch-Gruppe bei Facebook”. Ja, der! Ohne den wäre die Hälfte jetzt wohl nicht hier. Und nächste Woche, beim ersten Trainingsmarsch zum Mammut seien sie  auch dabei. Mal schauen, ob ich dann noch jemanden wiedererkenne. Nachts sind alle Wanderer grau…

Berliner Polarnacht Brücke

In unserem Dreiergespann machte sich währenddessen Unmut breit. Schmerzende Fußsohlen, aufgeriebene Blasen und sonstige Ausfallerscheinungen. Es ächzte und stöhnte beidseitig neben mir. Als ich nach 27 km nach dem Passieren eines vereisten Feldes nochmal einen Zahn zulegte, kam das erste “Ich hasse Dich!” hinübergeknurrt. Gefolgt von “Der nächste S-Bhf ist meiner!” Der nächste Bahnhof war Heiligensee. Mir ging es vergleichsweise gut. Meine Schienbeine merkte ich zwar genauso wie mein Knie, auf das ich beim Lauftraining auf Eis gefallen war. Aber ich wäre auch noch ein paar Kilometer gegangen.

KM 30: In Heiligensee ist Schluss

Als wir nach knapp 30 km den S-Bhf Heiligensee erreichten, war ich der festen Überzeugung, hier würden einige die Ausstiegsmöglichkeit nutzen. Pustekuchen! Es wurde weder das Tempo gedrosselt, noch der Abzweig zum Bahnsteig eines Blickes gewürdigt. Auch keine Frage, ob jemand genug hat. Alle zogen weiter durch. Wir waren also offiziell die Luschen vom Dienst. Die letzten winkten noch kurz und verschwanden in der Dunkelheit. Die vordersten werden nicht einmal mitbekommen haben, dass wir uns abgeseilt hatten. “Niemand wird zurückgelassen” ist ein Spruch, der bei dieser Veranstaltung völlig fehl am Platze ist.

Berliner Polarnacht Heiligensee

Glücklicherweise fuhr die S-Bahn von Heiligensee alle halbe Stunde. Die ganze Nacht hindurch. Hauptstadt zu sein, ist doch was feines. Nicht einmal umsteigen brauchte ich. Meine Begleiter leckten sich ihre Wunden und trafen Feststellungen zum falsch gewählten Schuhwerk oder Socken. Mir machten hautpsächlich meine Schienbeine zu schaffen. Aber ich dachte, das hielte sich noch in Grenzen. Eine Stunde S-Bahnfahrt später wurde ich eines besseren belehrt. Ich stand auf, stieg aus und versuchte zu laufen. Meine Beine waren steifer als die von Pinoccio! Und so lief ich auch. Bestimmt einen halben Kilometer. Danach wurde es allmählich besser. Wer weiß, wie das geendet hätte, wenn ich die ganzen 50 km gelaufen wäre.

So gesehen war ich durchaus froh, mich als Lusche geoutet zu haben. Wer wandert auch schon aus dem Stand heraus 50 km, wenn einem der eigene Körper lieb ist? Genau deswegen fängt nächste Woche mein offizielles Training zum Mammutmarsch dort an, wo die Polarnacht aufgehört hat: mit 30 km!

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11 Gedanken zu “[:de]23. Berliner Polarnacht – Der Mammutmarsch, den keiner kennt[:]

  1. Uwe, ich bin mir sicher, dass es auch eine 24. Berliner Polarnacht geben wird. Der Wolfgang Pagel scheint mir unkaputtbar 🙂 Ich freue mich schon sehr auf den nächsten Samstag!

  2. Toller Bericht, überhaupt das es solche Wanderungen gibt wusste ich bis vor ein paar Wochen gar nicht. Um so toller mal eine Beschreibung davon zu lesen.
    Ich habe mir als Mittelziel 2016 auch eine lange Wanderung vorgenommen, vor einem halben Jahr hätte ich gesagt, wer Marathon laufen kann, kann auch 50km wandern, aber heute sehe ich das schon anders. Wie man sieht ist es ja auch nicht so einfach, wobei du mit Arbeitstag im Körper schon ein Handicap hattest.

    Ich verfolge das mal weiter, wie Du so ein “Wandertraining” gestaltest, vielleicht brauch ich das ja auch mal 🙂

  3. Schöner Bericht…hoffe, dass ich die 30 km nächste Woche beim Mammutmarschtraining schaffe. Lasst uns die Daumen drücken, dass die scheint!

  4. Sehr schön geschrieben und tolle Bilder! Nur 1 Fehler: Wenn man anfangs bei 30 km aussteigt, ist man keine Lusche
    Ich kann leider erst ab März bei Trainings mitmachen, aber darauf freue ich mich schon.

  5. Daniel, bis vor der Mammutmarschgruppe hatte ich auch keine Ahnung, dass seit 22 Jahren schon jemand diesen Wahnsinn zelebriert. Ich könnte mir aber vorstellen, dass sich diese Art von Events in Zukunft mehr etablieren.
    Nach dem gestrigen 27 Km-Lauftraining muss ich wieder feststellen, wie viel leichter mir das fällt als 30 km wandern. Die Annahme, wer die Strecke laufen kann, kann auch deutlich länger wandern, kann ich so nicht unterstützen 😉

    Vielleicht sehe ich dich ja bei einem meiner Trainings. Ich bin auch gespannt, ob das ein guter Plan ist. Bin ja keine Trainerin.

  6. Du meinst bestimmt die Sonne, Katharina 🙂
    Die Masse und die gute Stimmung wird Dich tragen. Und wenn Du es erstmal nicht schaffst, ist das auch nicht tragisch. Wir haben ja noch ein paar Termine!

  7. Danke Joanna! Man kommt sich aber schon komisch vor, wenn alle anderen nicht mal mit der Wimpern zucken (scheinbar) und einfach weiterlaufen. Unglaublich! Aber ich denke auch, es war eine weise Entscheidung.
    Ich freu mich, Dich ab März dabei zu haben.

  8. Also die Mietze hätte bestimmt nicht gefroren. Zu kalt war mir nämlich zu keinem Zeitpunkt. Nicht mal die Pfoten 🙂 Ganz im Gegensatz zum Laufen!

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