35. Berliner Halbmarathon – suboptimales Sub 2-Hour-Finish

Da war er wieder, der Berliner Halbmarathon. Im letzten Jahr hatte ich hier mein Halbmarathon-Debüt gegeben und auch da schon das Ziel gehabt, unter zwei Stunden über die Ziellinie zu laufen. Warum das nicht geklappt hatte, hatte ich hier berichtet. Ich war auch diesjahr wieder meinem Trainingsplan treu geblieben, hatte jedoch im Dezember und den halben Januar mit Erkältungen zu kämpfen, so dass mir einige Einheiten flöten gegangen waren. Trotzdem war ich wild entschlossen, wieder gegen die Uhr zu laufen.

Nun ja, “gegen” ist vielleicht falsch ausgedrückt. Vielmehr hatte meine neue Laufuhr mein Selbstbewusstsein unterstützt, dass ich das kann.

Kurz vor dem Schneeglöckchenlauf hatte ich meine geliebte und vielgenutzte Garmin Forerunner 310XT mit einem lachenden und einem weinenden Auge gegen die 920XT ausgewechselt. Alle anderen neueren Laufuhren hatten meiner 310XT für meine Bedürfnisse nicht das Wasser reichen können. Es fehlten Funktionen bzw. konnte ich mich für Touchscreen an einer Laufuhr überhaupt nicht begeistern. Und dann kam die 920XT. Endlich mehr als drei mögliche Aktivitäten und endlich WLAN und Bluetooth, so dass das lästige Verbinden über den PC entfiel. Neben ganz vielen weiteren tollen Spielereien hat die Uhr aber auch genau ein Gadget, welches mich für den Halbmarathon beflügelte: die Lauf-Prognose. Anhand einiger Trainings- und Wettkampf- und sicher noch vieler anderer Daten errechnet der Forerunner die voraussichtliche Zielzeit für die Wettkampfdistanzen über 5 km, 10 km, für den Halb- und Marathon.  Kurz vor dem Berliner Halbmarathon prognostizierte sie mir laufprognose1eine Zeit von 1:53:52. Das fand ich schon sehr optimistisch, aber da die Zeiten über 5 und 10 km mit meinen schon erreichten Zeiten ziemlich genau übereinstimmten, dachte ich, kann das so falsch nicht sein.

Ich hatte mir also auch für diesmal einen Mindest-Pace von 5:39 vorgenommen, um unter 2 Stunden zu finishen. Das Wetter war wettkampftechnisch prima. Frische 10-15 Grad und bedeckter Himmel. Regen war vorausgesagt worden, aber zum Zeitpunkt des Starts war es trocken. Die ersten 9 Kilometer lief ich sogar ein wenig schneller als geplant und lag gut in der Zeit. Am Schloss Charlottenburg hatte ich einen kurzen Moment der Schwäche und war mir recht sicher, dass ich dieses Tempo keine weiteren 12 km durchhalte. Seltsam, das ging mir auch schon im Vorjahr so. Ich pfiff mir also mein Päckchen Fruchtmus rein und kriegte mich nach relativ kurzer Zeit auch wieder ein. Mit Martin, meinem Laufbegleiter, hatte ich diesmal abgemacht, dass wenn einer das Tempo nicht mehr halten kann, der andere weiter läuft, um das bestmögliche rauszuholen. Nach etwa 12 km war es dann auch soweit, ich lies ihn hinter mir und musste mich nun alleine motivieren. Bis km 17 funktionierte das auch ganz gut. Danach wurde aber jeder Kilometer schlimmer. Ich fühlte langsam, dass die Luft raus war. Da ich mir aber ein ganz gutes Polster erlaufen hatte, dachte ich, lasse ich es ein klein wenig langsamer angehen. Ziel war ja nur, unter 2 Stunden anzukommen. Und das war zu dem Zeitpunkt schaffbar.

Mein langsameres Tempo linderte aber leider den Erschöpfungszustand nicht. Auf den letzten 2,5 km rang ich mit mir. Ich wollte nicht mehr, meine Füße glühten, als würde ich über heiße Lava laufen, es ging bergauf und km 20 wollte einfach nicht kommen. Aber im meinem Kopf hämmerte es: “Du kannst das! Du hast dafür trainiert! Aufgeben ist keine Option! Deine Uhr hat Dir gesagt, Du bist soweit! Reiß Dich zusammen und lauf noch die paar Meter! Du wirst Dich hassen, wenn Du jetzt klein bei gibst!”  – Ja, das hätte ich wohl. Trotz allem, was danach folgte.

Also riss ich mich zusammen und rannte. Ich kann mich kaum noch an die letzten Meter erinnern und auch der Zieleinlauf ist nur verschwommen in Erinnerung. Ich weiß nur, dass ich über die Zeitmessmatten lief und statt stehen zu bleiben, wie betrunken torkelte. Weil ich mich selbst nicht mehr fangen konnte, tat das einer der Sanitäter direkt im Zielbereich. Ich wurde ins Johanniter-Zelt geführt und auf eine der Liegen gelegt. Ja, dachte ich, vielleicht ist das jetzt mal kurz gar nicht so schlecht. Ich bekam eine Decke zum Wärmen drübergelegt, obwohl mir alles andere als kalt war. Eine nette Sportärztin machte mir sogar die Schuhe auf. Als ich da so lag, merkte ich, dass sich plötzlich die Liege zu drehen begann. Natürlich nicht wirklich, aber es fühlte sich so an und als erwartete Reaktion darauf kehrte sich mein Inneres nach Außen. Mir war ja so übel. Ich bekam eine Nierenschale nach der nächsten gereicht und versuchte auch Isogetränke zu mir zu nehmen. Die wollten allerdings nicht drinbleiben.

Keine Ahnung, wie lange dieser Zustand so angehalten hat. Ich hatte völlig das Zeitgefühl verloren. Mein Handy klingelte sich an meinem Arm zu Tode, aber ich war nicht in der Lage, es abzumachen, geschweige denn, ran zu gehen. Ich wollte eigentlich nur liegen und schlafen. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, ob ich die Sub 2 geschafft hatte. Stattdessen ärgerte ich mich, dass meine Uhr die ganze Zeit weiterlief. Ich hatte vergessen, dass ich doch Auto-Pause eingestellt hatte und damit meine Uhr spätestens zum Zeitpunkt des Liegens gestoppt hatte. Überhaupt fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren und auf Fragen der Ärzte zu antworten. Irgendwann schaffte ich es, mich aufzusetzen. Der Bedarf an Nierenschalen war aber weiterhin ungebrochen. Nachdem rechts und links von mir die Patienten schon wieder standen, wollte ich das auch. Aber die Ärztin schüttelte nur energisch den Kopf. Kam gar nicht in Frage. Fast eine Stunde nach meinem Zieleinlauf schaffte ich es erst, mein Handy vom Arm zu entfernen und einen ersten Anruf abzusetzen. Für meine Mitläufer war ich ja auf einmal verschollen. Die einzige Information, die zu bekommen war, war, dass ich über die Ziellinie gelaufen war. Aus runtastic, welches tatsächlich noch weiterlief, konnte man zumindest erkennen, dass ich noch irgendwo vor Ort war.

berliner_HM_2015_caroEndlich war mir auch ein Blick auf meine Uhr möglich. Ja, ich hatte die Sub 2 geschafft. Knapp, aber geschafft. Ich war glücklich, sogar unter diesen Umständen, fragte mich aber insgeheim, ob ich wohl jemals eine Medaille bekommen sollte. Dorthin hatte ich es ja nicht einmal mehr geschafft. Meine Frage wurde ungestellt beantwortet, als die Sportärztin mir meine Medaille mit einem “Glückwunsch, hast Du Dir verdient!” umhängte, kurz bevor wieder die Nierenschale fällig wurde. Derweil hatten schon die Zeitmessmatten aufgehört, zu piepen, da alle Teilnehmer bereits über die Ziellinie gelaufen waren. Und es hatte auch angefangen zu regnen, war man mir aber erst später mitteilte. Die Ärzte, die sich inzwischen um meine Liege gescharrt hatten, weil keine anderen “Kunden” mehr da waren, versuchten Blut aus mir heraus und Flüssigkeit per Infusion in mich hinein zu bekommen. Die Infusion war da deutlich erfolgreicher, da meine ohnehin schon kaum sichtbaren Venen durch die Dehydrierung quasi nicht mehr vorhanden waren. Die Werte, die dann übrig blieben, waren so wenig berauschend, dass man mir riet, mich zur Kontrolle, dass keine Schädigung des Herzens oder der Nieren vorlag, ins Krankenhaus fahren zu lassen. Angesichts der Lage stimmte ich dem zähneknirschend zu und es ging ins Benjamin-Franklin in Steglitz. Dass ich so weit gefahren wurde ist nur ein Aspekt, dem ich neben der Umsorgung der Sportärzte vor Ort unglaublich dankbar bin.

Was dann folgte, waren Stunden des Wartens und unzählige Versuche, ausreichend Blut für Untersuchungen aus mir herauszupressen. Ebenso häufig, wie Nadeln in mich gestochen wurden, schüttelten die Ärzte den Kopf, wenn einfach mal wieder nichts kommen wollte. Und wenn dann mal was kam, war es meist so wenig, dass nach wiederum zwei Stunden festgestellt wurde, dass wir von vorn beginnen müssen. Um 23 Uhr sollten dann nach fast 8 Stunden im Krankenhaus die Ergebnisse aus der Blutuntersuchung und dem EKG vorliegen. Ich freute mich so auf eine Dusche, eine große Pizza und ein Bett, denn ich hatte nach dem Zielleinlauf weder mich frisch machen oder umziehen können, noch hatte ich außer einem Stück Käsekuchen, welches ich mir als Gewinnerkuchen eingepackt und während  des Wartens im Untersuchungszimmer vertilgt hatte, etwas gegessen. Diese Hoffnung wurde mir jedoch genommen. Man sagte mir, meine Blutwerte seien hoch und glichen denen von Herzinfarktpatienten, aber das sei nach einem (Halb-) Marathon grundsätzlich normal. Da aber meine Familiengeschichte herzinfarkttechnisch geprägt sei (Herzinfarkt meines Vaters im Alter von 37 Jahren), gehöre ich zu einer speziellen Risikogruppe und man müsse mich zur Kontrolle über Nacht dort behalten. Ich war ziemlich am Boden zerstört, aber blieb.

Im Nachhinein betrachtet war das eine gute Entscheidung, denn nach einem Langzeit-EKG über Nacht, einem Ruhe-EKG, Belastungs-EKG, Herz-Ultraschall und unzähliger weiterer Einstiche zur Blutgewinnung teilte man mir am nächsten Tag mit, dass alles in Ordnung sei. Mein Herz sehe sogar schöner aus als erwartet und ein Marathon sollte nicht mein Problem sein. Es war ganz schlicht und einfach Erschöpfung und völlige Verausgabung. Nichtsdestotrotz ist diese Erfahrung bei mir hängen geblieben und ich weiß bei zukünftigen Wettkämpfen, wann ich auf meinen Körper hören und vom Gas gehen sollte. Bestzeiten sind wunderbar, aber nicht alles.

Zur Wettkampfbewertung inklusive Streckenübersicht geht es hier!

35. Berliner Halbmarathon, Rückseite
35. Berliner Halbmarathon, Rückseite

18 Gedanken zu “35. Berliner Halbmarathon – suboptimales Sub 2-Hour-Finish

  1. Wow, ziemlich eindringlicher Bericht … so etwas bekommt man auch nicht so oft zu lesen, hoffentlich auch deswgen weil man sowas auch nicht oft erlebt.
    Toll, dass alles gut für Dich ausgegangen ist. Dieser Lauf wird Dir wohl noch lange in Erinnerung bleiben?

  2. Auf jeden Fall, Daniel! Vielleicht braucht man das als Läufer einmal in seinem Leben. Wenn auch nicht unbedingt in der vollen Bandbreite. Zumindest habe ich gelernt, auf meinen Körper zu hören. Wenn die Bestzeit nicht drin ist, ist sie es eben an dem Tag nicht. Dann lieber aufrecht die Medaille entgegennehmen und Pizza essen gehen!

  3. Ich war jung und unerfahren 😉 Naja, zumindest zweiteres. Natürlich hätte ich vorher auf mich hören müssen, aber wer gibt im Wettkampf nicht sein letztes. Auf jeden Fall bin ich vorsichtiger geworden. Eine Lehre war es mir.

  4. Schön das du so offen darüber schreibst und es nicht abschreibst und wegwinkst. Ich hoffe das du so etwas nicht nochmal erleben musst. 😉

  5. Es gibt bestimmt viele, denen es unangenehm ist, so etwas offen zu sagen. Aber aus Fehlern lernt man. Und die muss nicht jeder am eigenen Leibe erfahren, wenn es jemanden gibt, der das durch hat 😉 Ich denke, in dem Maße passiert mir das nicht noch mal.

  6. Beim Lesen habe ich mich gefragt ob ich mich auf der Strecke anders verhalten hätte als du, also ausgestiegen wäre. Die Antwort ist wohl nein… Wer gibt schon gerne auf? So ein “bißchen” Erschöpfung ist ja eigentlich normal, scheinbar kein Grund stehen zu bleiben.
    Zum Glück ist das da nochmal gut gegangen und du hast keine bleibenden Schäden davon zurück behalten.

    Grüße
    Sascha

  7. Genau, Sascha, es ist im Wettkampf wirklich schwer, so weit in sich hinein zu horche, ob es ein “bisschen Erschöpfung” oder völlige Überlastung ist. Aber wenn ich schon nur noch wie ein sterbendes Pferd vor mich hin keuche, ist bei mir wohl der Punkt gekommen, vom Gas zu gehen. Eine zeitlang hatte ich sogar meine Uhr mit Pulswarnung laufen lassen.
    Ich bin auch froh, heil aus der Sache herausgekommen zu sein. Am meisten erschreckt hat mich, wie wenig ich in der Lage war, mich kurz nach dem Blackout zu artikulieren. Jeder Satz fiel schwer.

  8. Ich muss gestehen: Ich bin kein Freund dieser Throwback Thursday Geschichte, weil die meisten Texte nach einem oder mehreren Jahre auch nicht spannender werden als bei ihrer Veröffentlichung. Dein Beitrag ist aber tatsächlich zeitlos und spannend. Danke dafür. Ich würde sagen, Du hast an dem Tag das Maximum aus Deinem Körper rausgeholt. Dieses Erlebnis, zu wissen (bzw. erfahren zu müssen), wo genau die Grenze liegt, fehlt mir z.B. noch – trotz zahlreicher Marathon- und Halbmarathondistanzen.

  9. Danke für Dein Bericht, sehr eindrucksvoll. Ich befinde mich selbst gerade in Vorbereitung meines ersten HM, liege in einem ähnlichen Leistungsbereich wie Du in Berlin. Mein primäres Ziel ist aber – noch mehr nach Deinem Bericht – gesund zu finishen und es nicht zu übertreiben. Werde mal Dein Blog im Auge behalten 😉

  10. Sebastian, das kann Du laut sagen. Das war wohl das Maximum. Unglaublich finde ich, dass mein Körper mich immerhin noch bis über die Ziellinie getragen hat und dann erst meinte, jetzt ist Schluss. Die Erfahrung muss aber m. E. auch nicht jeder machen 😉

  11. Da wünsche ich Dir jetzt schon mal viel Erfolg für deinen ersten HM. Für mich war der Berliner HM auch der erste (allerdings in 2014). Gesundheit ist das wichtigste, das habe ich auch gelernt. Es wird noch so viele Gelegenheiten geben, Bestzeiten zu laufen. Manchmal soll es einfach nicht sein und an anderen Tagen fällt einem dasselbe Tempo viel leichter als zuvor. Hör auf Dich und deinen Körper, ein bisschen fordern kannst du ihn aber schon!

  12. Bei meinem ersten Marathon ging es mir im Ziel auch nicht gut. Ich musste mich übergeben und war dann auch im San-Bereich. Trinken und Massage brachten meinen Kreislauf wieder in Schwung. Es war wohl eine Kombination aus Erschöpfung und Magenproblemen. War irgendwie nicht mein Tag, wollte aber dennoch finishen. Ich denke aber, ich konnte mich und meinen Körper dennoch gut einschätzen. Ich ging einfach nur an meine Grenzen. Es gab allerdings auch schon Läufe, bei denen ich einsah, dass ich vom Gas gehen musste. Ich wünsche Dir, dass Du weiterhin Spaß am Laufen hast und Du Dich und Deinen Körper richtig einschätzen kannst.
    http://www.brennr.de/2008/05/29/mein-erster-marathon/

  13. Dann weißt du ja ziemlich genau, wie es mir ging 🙂 Das Übergeben gehört wohl zum absoluten Erschöpfungszustand dazu, sagten die Sanis mir. Bei mir hat Trinken leider nichts geholfen, weil ja nichts drin bleiben wollte. An meine Grenzen werde ich weiter gehen. Aber nicht wieder darüber hinaus.

  14. Hallo Carola,

    ich kann sehr gut nachfühlen, wie es dir damals erging. Daher finde ich es gut, auch von der “anderen” Seite des Sports zu lesen. Auf Blogs liest man ja meist nur Erfolgsmeldungen. Wenns bei einem selbst dann ganz und gar nicht läuft, zieht einen das ganz schön runter. Ich hatte ein ähnliches Erlebnis, das gehörig an meinem sportlichen Selbstvertrauen gekratzt hatte.
    http://www.timekiller.de/2013/08/grenzganger/
    Ich hoffe Du konntest Deine Selbstzweifel nach dem Zwischenfall schnell wieder über Bord werfen.

    viele Grüße vom -timekiller-

  15. Ich denke, es ist eine gute Sache, auch von dieser Seite des Sports zu berichten. Nicht wenige lagen mit mir an diesem Tag im Sani-Zelt. Toll finde ich daher zu lesen, auch von dir, dass es noch mehr Läufer gibt, die es nicht unter den Teppich kehren, was passieren kann.
    Selbstzweifel hab ich keine (mehr). Gelernt, das habe ich.

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